World Press Foto des Jahres: Propaganda für den Terror?

Das Siegerbild des World Press Photo Award 2017 zeigt den Augenblick nach der Ermordung des russischen Botschafters Andrej Karlow in der Türkei. In Siegerpose steht der Attentäter Mevlüt Mert Altinas neben der Leiche des Ermordeten, die Linke triumphierend in die Luft gestreckt, in der Rechten die Mordwaffe.

Als ich das Bild sah, da meldete sich zuerst der Fotograf in mir. Wow....was für ein Bild. Der Fotograf Burhan Ozbilicis hat einfach alles richtig gemacht. Das Foto ist so perfekt, als sei es ein Szenenbild aus einem Spielfilm und der Fotograf hatte bei mehreren Einstellungen die Möglichkeit, auf den Punkt genau den Magischen Moment zu erfassen. Trotz der Gefahr, in der ja auch der Fotograf schwebte, positionierte er den Attentäter intuitiv noch perfekt zwischen die Bilderrahmen. Und auch der Ermordete ist richtig im Anschnitt. Der Körper des Attentäters steht unter Spannung, das linke Bein ist dem rechten wie in einem unvollendeten Schritt gespreizt vorangestellt, während der linke Fuß wie in einer Vorwärtsbewegung nur auf dem Ballen steht. Der linke Arm streckt sich so hoch er kann und der ausgestreckte Zeigefinger verlängert ihn noch und verstärkt damit die Geste des Triumphes. Der weit aufgerissene Mund brüllt etwas in den Raum und man ahnt fast, das es »Allahu Akbar« ist - Gott ist groß. »Ein spannungsgeladenes Foto« sagte denn auch Jury-Mitglied Mary F. Calvert zur Begründung der Entscheidung. Und wer wollte das bestreiten?

Aber ein Foto ist heute nicht mehr einfach nur ein Foto. Der Kontext aus Bildtext und veröffentlichendem Medium ist wichtig und auch die Wirkung auf die Betrachter. Und das gilt insbesondere für dieses Bild. Entsprechend genutzt, kann es zu einem Werkzeug werden, zu einem Instrument der Ideologie, mit dem weitere Attentäter zu Märtyrern rekrutiert und fanatisiert werden. Es kann zu einer Ikone der Stärke radikaler Fundamentalisten werden und zu einer Ikone der Schwäche demokratischer Gesellschaften. Wir alle wissen, wie gut die Terroristen dieser Welt mittlerweile auf der Klaviatur medialer Propaganda spielen. Da kommt ihnen ein solches Foto gerade recht. Und da stellt sich die berechtigte Frage, ob es nicht geradezu ignorant ist, bei der Überlegung, ob man dieses Foto zu dem Siegerbild des wichtigsten Fotojournalismus-Preises des Jahres küren soll, die Wirkung des Bildes auszuklammern? Die Entscheidung der Jury war deshalb nicht einhellig. »Dieses Bild des Terrors sollte nicht das Foto des Jahres sein,« sagte Magnum-Fotograf Stuart Franklin, »ich habe dagegen gestimmt.« Und auch Peter-Matthias Gaede, der langjährige Chefredakteur von Geo, schreibt auf Meedia.de: »Wieso müssen wir zu den Protagonisten unserer Zeit die Mörder machen?« Viele Meinungen auf den unterschiedlichsten Foren argumentieren in die gleiche Richtung.

Dabei hat es andere hervorragende Bilder gegeben, deren Botschaft nicht von Hass und Terror künden, sondern von Mut und Zivilcourage. Wie zum Beispiel das Foto des Reuters-Fotografen Jonathan Bachmann von der farbigen Krankenschwester Ieshia Evans, die in Louisiana gegen Polizeigewalt demonstriert und den auf sie zustürzenden Polizisten trotzig ihre Handgelenke entgegenstreckt. Auch dieses Bild ist fotografisch gesehen ein Juwel. Aber eines, das in dieser Zeit des Hasses, des Nationalismus´ und der Fremdenfeindlichkeit ein Symbol für demokratischen Widerstand und Ungehorsam ist.

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Paolo Pellegrin - Streit um ein preisgekröntes Foto

Er ist der wohl erfolgreichste Fotograf der legendären Fotoagentur MAGNUM und für viele Fotografen das große Idol. Jetzt ist der Italiener Paolo Pellegrin Mittelpunkt eines Skandals, der seinen und den Mythos von MAGNUM arg ins Wanken bringt und eine Diskussion um Ethik und Moral im Fotojournalismus entfacht, von der MAGNUM bislang weitgehend unbehelligt war.

Ausgangspunkt war ausgerechnet ein Foto der Arbeit, für die der erfolgsverwöhnte Pellegrin gerade seine drei aktuellsten Preise erhielt. Den 2. Preis beim World Press Photo Award (General News Stories), den zweiten Preis beim amerikanischen Press Photographer of the Year (POY) in der Kategorie Reporting Picture Story und beim gleichen Wettbewerb den Titel »Freelance Photographer of the Year«.

Das beanstandete Bild entstand im Rahmen eines Gruppenprojektes von MAGNUM in der US-Stadt Rochester. Bei dem Projekt wurde MAGNUM von dem Rochester Institute of Technology (RIT) unterstützt und Fotostudenten des RIT halfen den MAGNUM-Fotografen als Assistenten.

Pellegrin konzentrierte sich in seiner Arbeit auf den Problembezirk »Crescent«, Schauplatz zahlreicher Morde, anderer Verbrechen und stadtbekanntes Drogenviertel. Für eines seiner Bilder suchte Pellegrin einen Waffenbesitzer, von dem er ein Portrait fotografieren wollte. Sein Assistent verwies ihn auf einen Kommilitonen vom RIT - Shane Keller - der mehrere Waffen besitzt. Der war mit einem solchen Portrait einverstanden. Pellegrin wählte dafür die Waffe aus und inszenierte das Bild in der Garage von Kellers Wohnhaus. Es entstand ein dramatisches SW-Bild mit großem figürlichem Schatten, auf dem Shane Keller mit seiner Pumpgun aussieht wie das Mitglied einer Gettogang, für den das Herumlaufen mit einer Schrotflinte am helllichten Tag offenbar die normalste Sache der Welt sei. Beim finalen Editing müsste Pellegrin diese naheliegende Interpretation auch klar gewesen sein. In der Bildunterschrift bezeichnet Pellegrin den Ort als »Crescent« und Shane Keller als ehemaligen Marine Corps Sniper. In die Dateiinformationen des Bildes ist außerdem ein Textschnipsel eingebunden, der aus einem 1o Jahre alten Artikel der New York Times stammt, in dem längst veraltete statistische Daten zu Rochesters Crescent enthalten sind. Weder das Datum der Veröffentlichung noch die Quelle werden genannt.

Dass den früheren Fotostudenten Shane Keller der Zusammenhang, in den er da gestellt wurde, nicht gefällt, kann man nachvollziehen, wenn man seine Version über die Hintergründe des Fotos hört. Dies sei nämlich gar nicht im Sodom und Gomorra von Rochester entstanden, sondern 6 Kilometer entfernt von Crescent. Ein friedliches Viertel, unweit des jüdischen Community Centers, wo man seine Tür unverschlossen lassen könne, ohne dass etwas gestohlen würde. Und er habe Paolo Pellgrin auch nie erzählt, dass er Sniper eines Marine Corps gewesen sei, denn schließlich war er bei den Marines Militärfotograf. Nachdem Shane Keller dies nach der Veröffentlichung des Bildes seiner ehemaligen Ethik-Professorin Loret Steinberg berichtete, kam der Stein ins Rollen. Denn die nahm Kontakt mit dem Redakteur Michael Shaw auf, der die scheinbaren Ungereimtheiten in dem Blog bagnotesnews.com unter der Überschrift »Wenn die Wirklichkeit nicht dramatisch genug ist: Falsche Darstellung in einem Foto, das den World Press Photo Award und das Picture of the Year gewonnen hat« veröffentlichte.

»Es tut mir leid, dass Michael Shaw, Loret Steinberg und Shane Keller meine Bilder von Rochester nicht gefallen«, antwortete Pellegrin in der von MAGNUM veröffentlichten Gegendarstellung. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Leute mit der Darstellung ihre Viertels durch einen Außenstehenden nicht einverstanden seien. »Das wissen wir doch alle.« Was die falsche Ortsbezeichnung betrifft, so habe er nicht herausfinden können, ob der Begriff Crescent eine genaue geografische Bezeichnung sei, oder eher ein ungenauer Begriff. Im Übrigen habe er bei der Fahrt mit seinem Assistenten die Orientierung verloren. Hätte aber die einfache Frage, »Sind wir hier in Crescent?« nicht jedes Missverständnis beseitigt? Und spielt die korrekte örtliche Zuordnung einer Person nicht besonders bei einer Reportage über ein solch negativ besetztes Viertel eine wichtige Rolle?

Anders als Shane Keller, so Pellgrin, habe für ihn die Fotografie von Keller mit dem Gewehr sehr wohl etwas mit der Gewalt in Crescent zu tun. Auch erinnere er sich, dass Shane, dessen Namen er später vergessen habe, sich ihm gegenüber als ehemaliger Sniper ausgegeben habe. Das aber relativiert er dann im nächsten Satz. Vielleicht habe Keller sich ja versprochen, oder er habe es vielleicht falsch verstanden!?

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Kopieren eines Ausschnitts aus einem 10 Jahre alten Artikel der New York Times in die Dateiinformationen. Dagegen ist nichts einzuwenden, wäre ein Hinweis auf die Quelle und das Erscheinungsdatum enthalten. Angesichts des Umfangs der Textpassage hätten auch diese Infos noch Platz gefunden. In diesem Fall wäre jedem Nutzer jedenfalls klar gewesen, dass die in dem Text enthaltenen statistischen Zahlen aktualisiert werden müssen. Das Argument des Fotografen, dass die Textpassage nur der Hintergrundinformation, nicht aber der Veröffentlichung dienen sollte, wird schon dadurch ad absurdum geführt, dass dieser alte Text bei der Veröffentlichung von World Press Photo offenbar als fundierter und aktueller Bildtext angesehen und tatsächlich veröffentlicht wurde. Natürlich können einem Fotografen, auch einem so ausgebufften Profi wie Paolo Pellegrin, Fehler bei den Captions unterlaufen. In einem solchen Fall sollte man dann aber eine etwas reumütigere Reaktion auf die Kritik erwarten können und nicht eine solch arrogante und größtenteils uneinsichtige,wie sie aus der veröffentlichten MAGNUM-Erklärung spricht. Nach Pellegrins ungelenken Erklärungsversuchen kommt tatsächlich die im Titel des Blog-Beitrages von bagnotesnews.com angerissene Frage auf, ob hier ein Star des Fotojournalismus mit dem Erfolgsdruck nicht klar gekommen und dem Zwang erlegen ist, jedem Fotografie gewordenen Drama immer noch ein neues hinzufügen zu müssen, auch wenn die Wirklichkeit diese Dramen vielleicht nicht immer hergibt?

Was wir aber alle daraus lernen müssen – und das betrifft auch die Verantwortlichen von World Press Photo und Press Photographer of the Year – dass eine dem Foto an die Seite gestellte Caption die gleichen ethischen Kriterien zu erfüllen hat, wie das Foto selbst.

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Die Straße als Bühne – Straßenfotografie

»Fotografieren heisst den Atem anhalten, wenn alle unsere Sinne danach streben, die flüchtige Wirklichkeit einzufangen«. Der Satz stammt von Henri Cartier-Bresson und er hat ihn auf die Fotografie allgemein gemünzt. Die Suche nach dem »magischen Moment«, wo aber ist sie bedeutsamer als in der Straßenfotografie?

Straßenfotografie, der Name sagt es schon, spielt sich auf der Straße ab. Aber nicht nur. Vielmehr ist damit der gesamte öffentliche Raum gemeint, für den die Straße lediglich ein Symbol darstellt. Straßenfotografie entsteht auch in halböffentlichen Räumen, wie Cafés, Kneipen und Läden.

Straßenfotografen betrachten die Straße, den öffentlichsten aller öffentlichen Räume, als ihre Bühne. Für sie spiegelt sich darauf das städtische Leben in all seinen Facetten wider. Dabei geht es nicht nur um den einen unwiederbringlichen Augenblick. Denn obwohl dieser Augenblick sich in der gleichen Form vermutlich nie wieder so ereignen wird, so soll die Straßenfotografie doch mehr als nur das augenblickliche Szenario widerspiegeln, sondern über diesen einmaligen Moment hinausweisen.

Eine gute Straßenfotografie zeigt in einer Art Grundsituation Menschen im urbanen Umfeld, deren Mimik, Gestik, Körpersprache oder Interaktion in der Beziehung zum städtischen Raum eine gewisse Allgemeingültigkeit ergeben, die über den eigentlichen, winzigen Moment der Aufnahme hinaus geht. Mensch und Raum stehen gestalterisch in einer Beziehung zueinander: aus einem Spannungsfeld zwischen Harmonie und Dissonanz ergibt sich die Grundsituation.

Die Themen, die auf der Bühne Straße gespielt werden, sind nie gestellt, geprobt oder geplant. Vorauszusehen oder erwartbar: ja, manchmal. Aber eigentlich müssen sie sich ergeben. Einfluss nehmen kann man nur auf jenen Ausschnitt Straße, den man sich als Bühne wählt. Wer dann aber die Bühne betritt, das hängt vom Zufall ab. Der Straßenfotograf ist somit eher ein Entdecker als ein Schöpfer. Er kreiert seine Motive nicht, er bringt sie vielmehr ans Licht und macht sie mit seinen Bildern öffentlich.

Die meisten Straßenfotografen machen sich bis zum Drücken des Auslösers so gut wie unsichtbar. Sie bestimmen daher auch nicht durch ihre (nicht sichtbare) Anwesenheit die Situation oder verändern sie dadurch. Erst das blitzschnelle Heben der Kamera und das Auslösegeräusch rückt sie in die Wahrnehmung ihrer Protagonisten. Aber dann ist die Szene zumeist schon im Kasten. Der Akt des Fotografierens, durch die vorgegebene Arbeitsweise ein äußerst schneller und manchmal gar hektischer Prozess, ist dagegen eine große schöpferische Leistung. Situation, Moment, Ausschnitt, Licht, Distanz – alles muss von dem Fotografen in rasend schneller Geschwindigkeit erfasst und zu einem Bild zusammengefügt werden. Die Mode der Menschen, Plakate und Neonreklamen, die Architektur von Häusern, Bars, Geschäften und die Modelle der Autohersteller, in alldem bildeten die Straßenfotografen die Zeit ab, in der sie ihre Bilder schufen. Somit sind Straßenfotografien ein genaues Zeitbild urbanen Lebens. Dem Veränderungsprozess der Gesellschaft unterworfen ist Straßenfotografie niemals statisch und dank ihrer starken Authentizität immer auch dokumentarisch.

Entstanden ist sie nach dem starken Anwachsen der städtischen Metropolen in Amerika und Europa in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, aber die eigentliche Blütezeit der Straßenfotografie liegt etwa zwischen 1945 und 1970. Damit ist sie der jüngste Spross unter den vielen Genres der Fotografie. Zwar haben der Franzose Eugène Atget in Paris, der Ungar André Kertész in Budapest und der Zeichner Heinrich Zille in Berlin schon zuvor auf der Straße und in anderen öffentlichen Räumen fotografiert, aber es waren vor allem Fotografen der prosperierenden Nachkriegsära wie Robert Frank, Gary Winogrand, Lee Friedländer, William Klein, Helen Levitt und Saul Leiter, die Straßenfotografie als Genre bekannt machten. Zu ihren deutschen Konterparts gehören u.a. Walter Vogel, Klaus Lehnartz und Gabriele und Helmut Nothhelfer.

Auch die technischen Fortschritte in der Fototechnik beförderten die Straßenfotografie. Handlichere Kameras wie die Mittelformatkamera Rolleiflex (Markteinführung mit Beginn der 30er Jahre) und die kleine und unauffälligere Kleinbildkamera Leica (1924) mit ihren leisen Auslösegeräuschen machten das unbemerkte Agieren der Fotografen auf der Straße überhaupt erst möglich.

In den siebziger und achtziger Jahren wurde es etwas ruhiger um die Straßenfotografie. Aktuell erlebt sie, auch unter jüngeren Fotografen, eine Renaissance. Philipp-Lorca diCorcia ist damit ein Star der Kunstfotoszene geworden und auch die Fotos der Magnum-Größe Bruce Gilden hängen in zahlreichen Ausstellungen.

Aber Straßenfotografie ist heutzutage längst auch ein fotografisches Feld jenseits der hehren Museums- und Galeriefotografie geworden. Die Handykamera hat dazu geführt, dass überall und jederzeit fotografiert werden kann. Die massentouristische Eroberung der Welt geht einher mit der fotografischen. Unter dem vielen belanglosen Fotos, die damit geknipst werden, sind auch immer mal wieder interessante Bilder. Nicht selten sind diese Handybilder für junge Menschen der Anlass, sich stärker mit der Fotografie zu beschäftigen. Was liegt da näher, als es auf der Straße zu beginnen, wo scheinbar jeder frei und uneingeschränkt fotografieren kann, weil es hier ja kein Hausrecht gibt?

Und wie stellt sich das in der fotografischen Praxis dar? Einfach raus auf die Straße und los geht´s? Ganz so einfach ist es nicht. Die Straßenfotografie gehört tatsächlich zu den schwierigsten Themenfeldern in der Fotografie. Denn das spontane und direkte Fotografieren auf der Straße verlangt die Überwindung einer psychologischen Sperre. Schließlich rückt man den Menschen dabei auf recht distanzlose Weise mit der Kamera auf die Pelle und es wäre nur allzu verständlich, wenn sich die Fotografierten dadurch belästigt fühlten. Während man in anderen Motivfeldern Beziehungen zu den fotografierten Personen aufbauen und so deren Vertrauen und Zustimmung gewinnen kann, geht das bei der Straßenfotografie nicht. Hier kommt es vielmehr darauf an, das alltägliche Agieren von Menschen im urbanen Raum abzubilden. Man begegnet ihnen nur für einen kurzen Augenblick. Da ist spontanes und direktes Handeln notwendig. Ein vorhergehendes Fragen nach einer Fotoerlaubnis würde die ausgewählte Szene unwiederbringlich zunichte machen.

Auch gestalterisch und technisch ist die Straßenfotografie sehr anspruchsvoll. Die Notwendigkeit der schnellen Reaktion verlangt ein sicheres Gefühl für kommende Situationen. Blitzschnell muss man danach die Bildkomposition in den Griff bekommen und auch die Schärfe muss stimmen. Einige Fotografen suchen sich dafür oft zuerst den Hintergrund aus. Das kann ein Werbeplakat sein, oder ein ungewöhnliches Schaufenster, oder einfach nur eine quirlige Straßenkreuzung, in die ein Lichtstrahl fällt. Diese Hintergründe bilden ihr Bühnenbild.

Dann warten sie darauf, dass Menschen durch diese Kulisse laufen - die Schauspieler. Ungewöhnliche Figuren, originelle Handlungen und schrille Kleidung entscheiden dann darüber, warum eine Szene auswählt und die andere verworfen wird. Und gerade das Unvorhersehbare macht den Reiz daran aus. Nie weiß man vorher, was geschieht. Manchmal kehrt man nach einem Tag ohne ein einziges gelungenes Bild zurück, manchmal gelingt ein Super-Schnappschuß in den ersten zehn Minuten.

Straßenfotografen arbeiten zumeist mit kürzeren Brennweiten - einem leichten Weitwinkel oder einer Normalbrennweite. Damit muss man dicht an die Menschen herangehen und schafft so eine natürliche Nähe zum Motiv, die unserer menschlichen Sicht entspricht. Der Eindruck des Voyeurismus, der sich beim Fotografieren mit einem Teleobjektiv häufig einstellt, wird so vermieden. Man fühlt sich als Betrachter vielmehr, als stünde man selbst auf der Straße, mitten im Geschehen.

Die Straßenfotografie, da gibt es kein Drumherumreden, ist eine besonders aggressive Form der Fotografie. Hier ist der Fotograf im direkten Sinne Jäger und Sammler. Denn das ungefragte Ablichten von Menschen auf der Straße ist zumeist nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte, es ist der Arbeitsweise der Papparazzi gar nicht so unähnlich. In der Straßenfotografie aber geht es nicht um das Ablichten von Prominenten, sondern um ganz normale Menschen im Straßenalltag. Und natürlich geht es auch nicht, wie beim Paparazzi, um einen ganz bestimmten Menschen, vielmehr entscheidet der Zufall darüber, wer zum Gejagten des Straßenfotografen wird. Die fotografierten Personen sind lediglich Stellvertreter der eigentlich gemeinten menschlichen Situation. Hier geht es also niemals um die Figur X oder Y.

Aber Parallelen sind da und die machen den Straßenfotografen zum etwas seriöseren Bruder des schäbig-schmuddeligen Paparazzi. Auf der anderen Seite verdanken wir der Straßenfotografie viele bedeutende Fotos, die unser Bild von der Welt nachhaltig geprägt haben, uns einen unverstellten Blick auf sie erlauben und die, wie z.B. Cartier-Bressons Bild vom Pfützenspringer, Einzug in die Ikonografie der Fotografie gefunden haben.

Auch wenn die Straßenfotografie einem bestimmten Grundmuster folgt, so gibt es doch viele Spielarten. Während Magnum-Fotograf Bruce Gilden seinen Motiven häufig aus unmittelbarer Nähe knallhart mit dem Blitzlicht ins Gesicht leuchtet, bemüht sich Joel Meyerowitz um größeren Abstand zu seinen Protagonisten und bezieht viel mehr städtischen Raum ein. Dabei versucht er, die aggressive Form des ungefragten und direkten Fotografierens durch weiche, fließende Bewegungen und eine passive Körperhaltung zu dämpfen, um den Menschen auf der Straße das Gefühl von Bedrohung und Belästigung zu nehmen. Der Tscheche Martin Kollar ist häufig im Umfeld von gesellschaftlichen Veranstaltungen unterwegs, wo das Fotografieren für die Teilnehmer ohnehin dazu gehört und zumeist nicht als unangenehm empfunden wird. Hier ist er auf der Jagd nach dem Komischen im Alltag. Und dem Schmunzler, den er uns mit jedem seiner Bilder entlocken möchte. Beim Schweden Olaf Lasthein fasziniert die Komplexität der Panoramen mit ihren 140 Grad Bildwinkel, die uns in seinen Fotos lange verweilen lassen, weil es darin so viel zu entdecken gibt. Die Fotos der Amateurfotografin Vivian Maier, im ruhigen Quadrat der Rolleiflex fotografiert, sind einfache und direkte Bilder, ehrlich und ohne jeden Versuch, sich als Fotografin vor die Motive zu schieben.

Saul Leiters ist der Maler unter den Straßenfotografen. Er schafft es ohne die übliche distanzlose Sicht, dem Puls der Stadt eine visuelle Entsprechung zu verleihen. Seine Bilder beruhen zumeist auf Beobachtungen aus der Entfernung . Wenn Saul Leiter Straßenleben fotografiert, dann streichelt er mit Kamera und Objektiv die Welt, wie ein Maler mit dem Pinsel die Leinwand.

Überhaupt sieht man Saul Leiters Fotos, besonders natürlich den Farbfotografien, mit denen er 1948 begann, seine tiefe Verwurzelung in der Malerei an, von der er bis heute nicht lassen kann. Ruhige Farbflächen werden von tiefschwarzen Schatten überlagert, irgendwo im Bildfeld schreit uns die unscharfe Signalfarbe einer Ampel oder Neoreklame an. Seine Farbbilder erinnern an den Expressionismus und sie lassen, wie in der Malerei der Moderne, auch konstruktivistische Ansätze erkennen. Farbflächen und geometrische Formen bilden Hintergrund und Rahmen für Schattenrisse von Köpfen und einsam durchs Bild gehende Menschen. Und immer wieder sind es regennasse Scheiben, hinter denen jemand steht oder geht und die das Bild der Stadt auf zwei Ebenen reduzieren und seine Bilder wie reine Poesie erscheinen lassen. Saul Leiters Straßenfotografie - damit ist er beispiellos in diesem Genre – ist eigentlich Fotografie gewordene Malerei.

Zurzeit lebt etwa die Hälfte der Menschheit in Städten. Tendenz steigend. Das schreit geradezu nach der fotografischen Auseinandersetzung mit der Urbanität. Die Straßenfotografie ist dazu ein adäquates Mittel und vielleicht erklärt das auch deren wachsende Bedeutung, besonders unter jungen Fotografen.

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Der Traum vom großen Bild - Warum es junge Fotografen in Kriege zieht

Es war der kürzeste Weg zum Erfolg. Etwa so erklärt der britische Fotograf Don McCullin in einem Gespräch mit dem ZEIT-Reporter Peter Sager seine Entscheidung, mit der Kamera in den Krieg zu ziehen: „Ich wollte auf die große Bühne, als Fotograf international bekannt werden.“ Dabei war McCullin durch seine Portraits und Sozial-Reportagen, die im Observer erschienen, in England schon ein anerkannter Fotoreporter. Aber das reichte dem Mann aus Finsbury Park nicht, einem heruntergekommenen Viertel im Norden Londons. Hier war er in ziemlicher Armut groß geworden und hatte die übliche Getto-Karriere durchlaufen, war Mitglied einer Straßenbande und häufig in Schlägereien verwickelt. Ausgerechnet der elegante, weltgewandte und intellektuell gebildete Robert Capa, Mitbegründer der legendären Agentur MAGNUM und in den Augen vieler der Kriegsberichter aller Kriegsberichter, wurde McCullins Vorbild. Capa war 1954 in Vietnam auf eine Mine getreten und dabei ums Leben gekommen. Das Vakuum, das Capas Tod in der Fotografenszene hinterließ, wollte Don McCullin füllen. Immer wieder, so berichtet er Peter Sager, stellte er sich vor einen Spiegel und sagte zu sich selbst: „Eines Tages bist du wer!“

Ein Einzelfall? Zieht man den unbedingten Willen des Getto-Jungen zum Aufstieg einmal ab, dann bleibt die Überzeugung des jungen McCullin, dass der Krieg das fotografische Potential besitzt, einen Fotografen mit den richtigen Fotos schneller – also sozusagen auf dem Abkürzungsweg – bekannt und vielleicht berühmt oder gar unsterblich zu machen, als es die Fotografie des Alltags und der unspektakulären Motive zuhause vermag. 

 „Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletztlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen“, schreibt die amerikanische Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag, die sich in ihren Büchern „Über Fotografie“ und „Das Leiden anderer betrachten“ intensiv mit der Krisen- und Elendsfotografie beschäftigt hat. Denn nirgendwo sonst offenbart sich der Mensch in seiner ganzen Grausam- und Menschlichkeit so sehr wie im Krieg. Nirgendwo sonst liegen Gefühle so dicht und radikal nebeneinander. Nirgendwo sonst treten sie so häufig und offen in ihrer extremsten Form auf: Verzweiflung, Trauer, Leid, Verletzlichkeit, Hoffnung, Glück, Mitgefühl, Solidarität. „Ein Krieg verdichtet extreme Emotionen in einer einzigen Situation“, glaubt auch der 23-jährige Fotostudent Christian Werner, den die Fotografie in Krisenszenarien deshalb fasziniert. Der ideale Stoff also für die Jagd nach dem Jahrhundertbild, der visuellen Ikone, die einen in einer 1/125tel-Sekunde in die Hall of Fame des Fotojournalismus katapultiert? 

Ganz so einfach ist es nicht mehr. Denn seit McCullins Erfolgsgeschichte, die 1964 mit seinen Bildern vom Bürgerkrieg auf Zypern und dem Gewinn des World Press Photo Award begann, sind 47 Jahre vergangen. Jahrzehnte, die Kriegsführung und die Medienlandschaft gravierend verändert haben. Es ist lange her, als die Erkenntnis von Bill Gates, wonach wer die Bilder, auch die Köpfe beherrscht, noch nicht Allgemeingut war. Damals mussten die Kriegsherren erst noch lernen, dass Bilder die kriegsbegeisterte Stimmung eines Volkes schnell verändern können. Und so änderten sie nach Vietnam ihre Strategie. Fortan stellte man Kriegsberichtern für deren Arbeit nicht so mir-nichts-dir-nichts die eigene Infrastruktur zur Verfügung und ließ sie frei agieren. Vorbei sind die Zeiten, als wie im Vietnamkrieg selbst Studentenzeitungsredakteure einen Helikopter-Freiflug an die Front bekamen, von der Armee verpflegt und untergebracht wurden. Heute will man die kontrollierte Berichterstattung. Die Armeen erfanden den „embatted journalist“ und den Journalisten-Pool. Wer sich nicht einreiht, der muss selbst sehen, wie er an die Schauplätze des Geschehens kommt. „Das Wichtigste ist, dass der Feind nicht das Monopol auf die Bilder haben darf“, erklärt Jamie Shea, ehemaliger Nato-Sprecher, die Medienstrategie der Militärs. Die wissen laut der Journalistin Astrid Frohloff („Der Krieg in den Medien“) nämlich längst, „dass Kriege an der Front gekämpft, aber zu Hause gewonnen werden“. Und die Bilder in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen sind es, die mitentscheiden, wer den Krieg in den Wohnstuben gewinnt. Das wissen auch die Diktatoren, Schlächter und Massenmörder dieser Welt. Da sie die ausländischen Medien nicht in dem Maße kontrollieren und beherrschen können, wählen sie eine andere Strategie. Regelrecht Zielobjekte sind Fotografen, Kameraleute und Journalisten mittlerweile für ihre Soldaten, Söldner, Freischärler und Milizen. Allein im Jahre 2010 sind 57 Journalisten während ihrer Arbeit getötet worden. 

Auf dem Weg zur Kriegsbild-Ikone stehen dem jungen Kriegsfotografen viele Probleme im Weg. Hinzu kommt, dass die Bildstrecken, die sich Kriegen und Konflikten widmen, immer rarer werden. Und um diese wenigen Zeitungs- und Zeitschriftenseiten streiten sich schon jetzt in einem harten Wettbewerb ein paar Dutzend der besten und ausgebufftesten Kriegsfotografen der Welt. Und selbst die können zum Teil schon nicht mehr von ihren Auftrags- und Veröffentlichungshonoraren leben. Das geringer werdende Einkommen aus Bildhonoraren und Assignments müssen sie immer häufiger mit Workshop-Honoraren kompensieren. 

Auch diese ernüchternden Fakten halten Fotografen nicht davon ab, von der Krisenfotografie zu träumen. Die Informationen, denen die Träume junger Fotografen zugrunde liegen, stammen zumeist aus zweiter Hand: Filme, Reportagen, Bücher, Artikel und Dokus über die ganz großen der Kriegsfotografie, die wie James Nachtwey schon fast Popstars der Krisenfotografie sind. Christian Frei´s Film „War Photographer“ über Nachtwey wird dann auch häufig von jungen Fotografen als Quelle ihres Wunsches und Wissens über die Kriegsfotografie genannt. Auch „The Bang Bang Club“, ein Spielfilm über die südafrikanischen Fotografen Ken Osterbroek, Greg Marinovich, Kevin Carter und Joao Silva wird der Faszination der Krisenfotografie weiter Nahrung geben. Obwohl Ken Oosterbroek bei einem Schusswechsel 1994 starb, Kevin Carter sich das Leben nahm und Joao Silva im Einsatz in Afghanistan beide Beine verlor. In dem Film sieht man die Protagonisten saufen und kiffen, Frauen abschleppen und am nächsten Morgen mit vernebeltem Kopf in das brennende Township ziehen, ein paar Mal auf den Auslöser drücken, noch schnell einen Heckenschützen mit riskantem Geknipse herausfordern und dann zurück in die sichere Redaktion. Der Krieg als Abenteuerspielplatz für große Jungs?! 

Solchermaßen illusioniert werden sich wohl auch zukünftig junge, abenteuer- und erfolgssüchtige Fotografen völlig unvorbereitet durch das Inferno von Granateneinschlägen und Maschinengewehrfeuer bewegen, wie es Kai Wiedenhöfer, einer der erfahrensten und meistprämierten deutschen Krisenfotografen, immer wieder erlebt. Ohne Helm und Schutzweste, ohne Quick Clot zur effektiven Blutstillung, oder zumindest einfaches Verbandsmaterial und ohne jegliches Wissen um die realen militärischen Gefahren ihres Arbeitsfeldes und den Umgang damit. Nur wenige von ihnen sind gut vorbereitet, sprechen wie Kai Wiedenhöfer gar die Sprache des Landes oder haben sich bei der Bundeswehr in Hammelburg auf einen Einsatz im Krieg trainieren lassen. Ihr „Learning on the Job“ kann gut gehen, aufgrund des Risikos aber auch schnell tragisch enden. 

„Wir versuchen, das perfekte Bild zu bekommen - und überschreiten dabei oft die Grenze des gesunden Menschenverstands“, sagt auf SPIEGELonline der deutsche Fotograf Marcel Mettelsiefen, 33, der acht Tage lang in Misrata fotografierte, einem der gefährlichsten Schauplätze des Krieges in Libyen. Hier starben die Fotografen Tim Hetherington und Chris Hondros. „Ich hätte viermal sterben können“ zitiert SPIEGELonline den Fotografen in der Überschrift. Man kann sich generell fragen, ob ein paar Fotos es Wert sind, dafür sein Leben zu riskieren. Legt man aber den Gedanken zugrunde, dass es Menschen geben muss, die uns in unseren Wohnstuben das Leid der anderen vor Augen führen, dann bleibt dennoch die Frage, und das ist alles andere als zynisch gemeint, ob sich für viele der gemachten Bilder das Risiko gelohnt hat? 

Denn so klischeehaft wie die Vorstellungen junger Fotografen von der Wirklichkeit der Kriegsfotografie sind, so oberflächlich sind häufig auch ihre Kriegsillustrationen, mit denen die Archive der Agenturen gefüllt sind: Sniper, Freiheitskämpfer mit Maschinenpistolen - mal feuernd, mal im Siegestaumel schwenkend - ausgebrannte Häuser und Autowracks. Vom Leid der Menschen und der Anteilnahme des Fotografen ist darauf nicht viel zu sehen. „Viele Fotografen bilden den Krieg lediglich als aktuelles Ereignis ab“, sagt Kai Wiedenhöfer, „nicht aber seine Resultate, die ja eigentlich viel mehr transportieren. Ihre Bilder sind vielfach geprägt durch unsere heutige Bilderwelt, der Einbettung in militärische Einheiten, von Hollywood-Action und der Romantisierung des Krieges.“ 

Es wäre sicher ungerecht, würde man die Motive der jungen Kriegsfotografen lediglich auf die Suche nach der Kriegbild-Ikone reduzieren, die einen schlagartig berühmt macht. „Wie viele junge Fotografen war ich fasziniert von der Idee, Weltgeschehen selbst miterleben zu dürfen und bedeutende politische und soziale Veränderungen zu dokumentieren“, erklärt der deutsche Fotograf Christoph Bangert, 33, der schon in mehreren Krisenregionen des nahen Ostens fotografiert hat, seine Motivation. Ein Studentenaustausch mit einer israelischen Fotoschule hat ihn erstmals nach Gaza und ins Westjordanland geführt. Bangert gibt aber zu, dass die Faszination des Thrills auch ein Motiv für ihn war: „Das Arbeiten in gefährlichen Situationen hat mich gereizt.“ Neben dem journalistischen Interesse, der Aussicht auf das überragende Bild und dem Reiz der Gefahr zieht es auch immer wieder junge Fotografen aus politischer oder humanistischer Weltanschauung in Krisenregionen. Sie halten es mit der einen Kriegspartei, sind gegen die andere oder wollen die Welt mit aufklärenden Fotos ein Stück besser machen. 

Seit dem Erscheinen seines Buches „Iraq – Schweigendes Land“ und ausgestattet mit Aufträgen von New York Times oder stern gehört Christoph Bangert zu dem Tross der Fotografen, der sich an fast jedem Krisenherd auf der Welt beim Fotografieren trifft: Tsunami in Japan, Krieg in Afghanistan und Irak, Unruhen in Palästina, Bürgerkrieg im Chad. „Unsere Kriegsfamilie“ nennt es der 28-jährige Schweizer MAGNUM-Fotograf Dominic Nahr. In dieser Formulierung deutet sich eine Kumpanei unter den Kriegsberichtern an, die in Grenzerfahrungen und Lagerleben geschmiedet wurde und die – welch Ironie – der Soldatenkumpanei gar nicht unähnlich ist. Dieses Leben sorgt für unzählige Adrenalinschübe und ist so fern der langweiligen Alltagsprobleme zuhause, das es einem wesentlich elementarer erscheint und damit leicht zu einer Art Droge wird, ohne die man nicht mehr auskommt. 

 Was aber kommt danach? Wenn einen zuhause die Dämonen all dessen heimsuchen, was man auf den Kriegsschauplätzen erlebt hat. „Wenn ich mich fürchten würde, dass dies meine Psyche verändern oder kaputtmachen könnte, bevor ich jemals so eine Situation erlebt haben sollte“, meint Fotostudent Christian Werner, „dann sollte ich es lieber gleich lassen.“ Don McCullin ist einer, der es wissen muss. „Ich will nicht mehr erleben, wie eine weinende Frau aus dem Fixierbad auftaucht, ein Mann mit einem toten Kind, ich will diese Bilder nicht mehr aufsteigen sehen und mit meinen Händen in der Dunkelkammer berühren“, sagt er im Gespräch mit Peter Sager. „Die Seelen und die Geister der Menschen, die ich fotografiert habe, sind hier im Haus, in diesen Archivschränken. Nachts, wenn die Fantasie Amok läuft, ist jener Teil des Hauses dort wie Dantes Inferno.“  

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Gut Ding will Weile haben - Vom Faktor Zeit in der journalistischen Fotografie

Alles kommt zur rechten Zeit für den, der warten kann.

Der Fehler liegt in der Eile.
Eile ist des Teufels Bote.
Der Hastige überspringt seine Gelegenheiten.
Festina lente! Eile mit Weile.
Der Weise kennt keine Hast, und der Hastende ist nicht weise.
Wer schnell geht, bekommt die Antilope nicht zu Gesicht.

Von der Bantuweisheit bis zum Philosophenwort meinen all diese Sinnsprüche, die aus verschiedenen Kulturbereichen stammen und deren Liste man locker noch um einiges verlängern könnte, das Gleiche: Willst du etwas richtig gut machen, dann brauchst du dafür Zeit.

Natürlich gilt das auch für die Fotografie. Vielleicht sogar besonders. Denn Fotos sind komplexe Produkte, deren Qualität vom richtigen Aufeinandertreffen verschiedener Elemente abhängt: die perfekte Interaktion der Menschen im Bild oder der richtige Augenblick. Das Licht. Die Perspektive. Der Ausschnitt. All das vereinigt sich in einem guten Foto in perfekter Weise. Es bedarf keiner große Vorstellungskraft, um einzusehen, dass sich die gewünschte Verdichtung eines Motivs nicht zufällig in einem Sucher einstellt, sondern dass man dafür häufiger als gewünscht lange Zeit arbeiten und warten muss. Und um wie viel aufwendiger ist es noch, wenn man mehreren Fotos eine komplexe Geschichte fotografieren muss?

Um deren Bilder zu finden, bedarf es des zweiten Blicks. Wir Fotojournalisten müssen einfach genauer hinsehen, um das zu finden, was man gemeinhin nicht sieht, das, was hinter den Kulissen oder unter der Oberfläche liegt. Das ist umso wichtiger, je mehr man von der Auffassung gelenkt wird, dass dem Journalismus als vierte Macht im Lande eine wichtige Kontrollfunktion zukommt.

Das genaue Hinsehen ist aber nicht nur eine Frage von optischem Sehvermögen. Eine gute Brille allein hilft da wenig. Genaues Hinsehen ist auch eine Frage von Wissen und Suchen. Denn nur wer Wissen hat von dem, was er fotografieren will, der kann auch nach den geeigneten Situationen oder den richtigen Schauplätzen suchen. Die findet man selten nur einfach so im Vorbeigehen. Das gilt umso mehr, je komplexer ein Thema ist.

Es wird im Fotojournalismus oft und gern ein Satz Robert Capas zitiert, der leider meist falsch gedeutet wird. „Wenn dein Bild schlecht ist, dann warst Du nicht nah genug dran!“, meint natürlich nicht eine physische Nähe zum Motiv, sondern eine Affinität zum gewählten Gegenstand und ein fundiertes Wissen über die Vorgänge, basierend auf einer gründlichen Recherche, einem gewissen Einfühlungsvermögen gegenüber den Menschen sowie auf das starke Bedürfnis, anderen Menschen die Situation so wahrhaftig wie möglich zu vermitteln.

Gute Fotografen dürfen also nicht sein, was der bekannte Reporter, Buchautor und Kisch-Preisträger Andreas Altmann mal geringschätzig „Belichtungsbeamte“ nannte, die auf ihren Reportagereisen von dem Schauplatz ihrer Fotoserien selten mehr wüssten, als die Adresse des Hotels, in dem sie absteigen würden.

Natürlich gibt es solche Fotografen. Ich wäre ein Ignorant wenn ich nicht zugeben würde, dass es davon leider zu viele gibt.

Gute Fotografen dagegen müssen neugierig sein. Sie müssen wissen wollen. Sie müssen wie Schwämme sein, die alles interessiert aufsaugen, was ihnen zu ihrem Thema unter kommt. Sie müssen Fakten, Eindrücke und Motive sammeln. Sie müssen all das gesammelte einordnen und bewerten. Und wenn sie die Schlüsselmotive ihrer Reportagen oder Bildserien gefunden haben, dann erst kommt die eigentliche fotografische Arbeit. Dann erst müssen sie die Motive in eine Form bringen. Noch dazu in eine, in der sich Form und Inhalt des Bildes ergänzen und stützen. Eine Form, die den Inhalt adäquat transportiert, nicht abgehoben oder gar kontraproduktiv. Und sie müssen die Geschichte auserzählen, in eben jenen Fotos, die wir brauchen, um sie verstehen zu können.

All das ist eine zeitaufwendige Prozedur, die nur wenig zu tun hat mit dem locker aus der Hüfte gemachten Schnappschuss, den der Laie so gemeinhin im Kopf hat, wenn er an außergewöhnliche Bilder denkt. Und auch Bildern, die auf den ersten Blick so aussehen, als seien sie irgendwie zufällig oder nebenbei entstanden, ist meistens der zweite Blick vorausgegangen. Es ist selten der Zufall, der dem Fotografen die spannenden Situationen zuführt.

Leider räumen die Auftraggebern uns Fotografen heute nur noch selten die Zeit ein, die den Anforderungen an eine qualifizierte Arbeit Rechnung trägt. Getrieben von sparwütigen Betriebswirten haben die Bildredaktionen fast aller deutschen Magazine die Dauer der Assignments im letzten Jahrzehnt drastisch reduziert. Denn die Verlagsmanager richten sich lieber nach dem ersten Unternehmens-Gebot „Zeit ist Geld“, das auf den amerikanischen Politiker und Verleger Benjamin Franklin zurückgeht, statt nach einer der eingangs zitierten Bantu- oder Volksweisheiten. Selbst ein Magazin mit Vorzeige-Charakter, wie National Geographic, bleibt davon nicht verschont. Einst lag die normale Dauer eines Reportagejobs dort bei 6 Monaten, heute sind es nur noch etwa 4 Monate. Das klingt immer noch üppig – ist es auch – relativ gesehen ist es aber auch eine Kürzung um ein Drittel. Bei uns in Deutschland kann man selbst von der Dauer dieses gekürzten Assignments nur träumen. Nicht selten muss man auch eine umfassendere Reportage in 3-5 Tagen fotografieren. Was bei einem solchen „Quickie“ herauskommt, kann man sich an fünf Fingern abzählen: Der Fotograf muss Klischees abarbeiten, fotografisch und inhaltlich. Und er muss vieles inszenieren. Mit gutem Fotojournalismus oder Autorenfotografie hat das in der Regel nichts zu tun. Denn zum Finden originärer Bilder bleibt einfach nicht die Zeit.

Kurz nach dem Mauerfall hat der deutsche National-Geographic Fotograf Gerd Ludwig eine Reportage im Osten Deutschlands fotografiert. In dem kleinen Nest Kesselsdorf nahe Dresden entdeckte er am Wegesrand einen auf einer Wiese stehenden Schaukasten. Ein ehemaliger LKW-Fahrer hatte mit seiner Frau einen provisorischen Rastplatz für Autofahrer eingerichtet und in der Glasvitrine stellten sie Bananen, Orangen, Äpfel und einige Getränke zur Schau, die man dort als Reiseverpflegung kaufen konnte. Mehrere selbstgemalte Schilder weisen auf das provisorische Ergebniss ersten unternehmerischen Denkens hin. Gerd Ludwig wartete, bis eine ältere Frau den Weg daherkam, der mit einem Holzzaun vom Vorgarten des Rastplatzes getrennt war. Als sie sich nach dem Schaukasten umdrehte, löste er aus. Für ihn erzählte das Foto so viel über die Veränderung in der ehemaligen DDR, dass er noch zweimal an diesen Ort zurückkehrte, um das Bild vielleicht durch besseres Licht und eine stärker wirkende Person zu optimieren. Letztendlich war es denn doch das Foto vom ersten Besuch, das als Doppelseite in National Geographic gedruckt wurde. Bei anderen Gelegenheiten fotografierte Gerd Ludwig das optimale Bild jedoch erst beim zweiten, dritten oder gar vierten Aufenthalt vor Ort. Dieses Streben nach Perfektion und dem ultimativen Bild von einer als interessant eingeschätzten Situation kostet Zeit.

Viel davon muss man sich als Fotograf auch dafür nehmen, die Menschen in der Geschichte für sich zu gewinnen. Die Protagonisten, die Sachverständigen und jene Menschen, von deren Wohlwollen und Interesse man abhängig ist, um seine Bilder zu bekommen. Da darf man nicht fordernd und rücksichtslos auftreten, nicht wie ein Elefant im Porzellanladen durch seine Geschichte trampeln. Man muss vielmehr, um wieder eine Aussage von Andreas Altmann zu zitieren, der wie kaum ein anderer Reporter die Menschen für sein Anliegen zu begeistern vermag, wie ein Snake Charmer vorgehen: behutsam, einschmeichelnd, immer aufmerksam. Beim Schlangenbeschwörer kann Hektik und Hast tödlich sein, beim Fotografen kann sie das vorzeitige Ende der Geschichte bedeuten.

Für viele deutsche Magazine ist ein Zeitraum von einer Woche die Schmerzgrenze, die es nicht zu überziehen gilt. Eine Woche Arbeit für die Darstellung einer 14-Millionenstadt wie Kalkutta mit all ihren Aspekten und Problemen? Eine Woche Arbeit für eine Reisereportage über Zypern, wo man zum Überbrücken der großen Entfernungen den größten Teil seiner Zeit im Fahrzeug verbringt? Eine Woche Arbeit für die Darstellung von Arbeitslosigkeit im Osten unserer Republik, über deren Ursachen und Hintergründe selbst Berufspolitiker schon seit Jahren mit unterschiedlichen Auffassungen streiten?

Wie soll das funktionieren?

Die Antwort ist simpel: Es geht nur dann, wenn man an der Oberfläche bleibt, wenn man darauf verzichtet, der Fotografie jene Kraft zu entlocken, die diesem Medium inne wohnt. Wenn man sich leicht zugänglichen Klischees zuwendet, für die man nicht suchend und forschend das Thema entwickeln muss. Wenn man in den Fußstapfen anderer Fotografen wandelt und sich damit zufrieden gibt, deren Bilder nach zu fotografieren. Modifiziert und etwas besser, wenn man Glück hat. Eine Stadt oder eine Insel kann man im Schweinsgalopp nun mal nicht neu interpretieren, selbst der beste Fotograf kann das nicht. Das Resultat ist das ewige Wiederholen von Klischees, die Illustration. Es ist also nicht die Gier nach maßlosen Honoraren, die jene Fotografen treibt, die nach ausreichenden Zeiträumen verlangen, um einen guten Job zu machen. Angesichts der finanziellen Realität, die von seit Jahren stagnierenden Honorarsätzen bei gleichzeitig hohen Lebenshaltungskosten-Steigerungen und hohen Renditen der Verlags-Aktionäre bestimmt wird, erschiene mir ein solcher Argwohn auch lächerlich.

Es kommt nicht von ungefähr, das die herausragenden Leistungen in der Fotografie zumeist Arbeiten sind, an denen die Fotografen lange Zeit gearbeitet haben. Eines meiner Lieblingsbücher von Fotografen ist der Band „Mennoniten“ vom kanadischen Fotografen Larry Towell. Zehn Jahre lang hat er an seinem Buch über die alttestamentarisch lebende Religionsgemeinschaft der Mennoniten fotografiert und müsste ich auf einer einsamen Insel mit nur einem Fotobuch auskommen, ich würde dieses Buch wählen.

Beispiele für eine solche Arbeitsweise gibt es glücklicherweise immer noch genug. Da sind z.B. Sebastiao Salgados Werke „Worker“ und „Migrants“. Patrick Zachmanns Arbeiten zur chinesischen Diaspora und der Immigration. Abbas Bücher über den Islam und das Christentum. Kai Wiedenhöfers Arbeit über den Palästina-Konflikt, Martin Parrs Massentourismus und Fast Food Kultur oder Nan Goldins New Yorker Subkultur. Alle diese Fotografen vereint jenseits der unterschiedlichen Themen und fotografischen Auffassungen eines: Sie haben sich viel Zeit genommen. Ohne die wäre nur ein Schatten ihrer jetzigen Werke entstanden. 

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